LKW-Shuttlezug auf dem Weg zum Eurotunnel

Eurotunnel: die Bahnverbindung unter dem Ärmelkanal

Der Eurotunnel ist mehr als nur eine Infrastruktur – er ist ein technisches Wunderwerk der Moderne. In siebenjähriger Bauzeit und mit 4.000 Arbeitern geschaffen, verbindet er England und Frankreich auf bislang unvorstellbare Weise: Die Gesamtlänge beträgt 50,45 Kilometer, von denen 38 Kilometer unter dem Meeresboden verlaufen. Es startet an zwei Terminals: dem britischen in Folkestone, Kent, und dem französischen in Sangatte bei Calais. Die Unterwasser-Verbindungsröhre liegt zwischen 45 und 75 Metern unter dem Meeresgrund.



Vorgeschichte des Eurotunnels

Die Geschichte des Kanaltunnels ist eine faszinierende Saga technologischer Innovation und politischer Herausforderungen, die sich über mehr als zwei Jahrhunderte erstreckt. Bereits im 18. Jahrhundert begannen Ingenieure und Wissenschaftler, die Möglichkeit einer festen Verbindung zwischen Großbritannien und dem europäischen Kontinent zu erkunden. Die wichtigsten Meilensteine dieser komplexen Entwicklung umfassen:

  • Nicolas Desmarets skizzierte 1750 als Erster die grundsätzliche Idee einer Kanalverbindung, ohne konkrete Umsetzungspläne zu entwickeln.
  • Albert Mathieu-Favier präsentierte 1798 den ersten detaillierten Tunnelentwurf mit einer künstlichen Insel als Zwischenstation, Postkutschenbetrieb und innovativen Belüftungskonzepten.
  • Aimé Thomé de Gamond erarbeitete zwischen 1834 und 1867 insgesamt acht verschiedene Tunnelprojekte und gilt als „Vater des Tunnels“.
  • John Hawkshaw und William Low diskutierten 1866 technische Details wie Tunnelquerschnitt, Röhrenanzahl und Belüftungsprobleme.
  • Erste praktische Bauarbeiten erfolgten zwischen 1878 und 1883, wurden aber aufgrund britischer Sicherheitsbedenken gestoppt.
  • 1955 gab das britische Verteidigungsministerium überraschend grünes Licht für das Projekt.
  • 1960 entwickelte die Groupement d’Etudes du Tunnel sous la Manche (GETM) einen fortschrittlichen Plan mit zwei Hauptröhren und einem Versorgungstunnel.
  • Wirtschaftliche Herausforderungen und die Kostenexplosion in den 1970er Jahren verzögerten die endgültige Realisierung.

Die Entstehungsgeschichte des Kanaltunnels verdeutlicht, wie technische Visionen, politische Spannungen und wirtschaftliche Realitäten zusammenwirken. Erst nach jahrzehntelanger Planung und zahlreichen Rückschlägen wurde der Traum einer festen Verbindung zwischen Großbritannien und dem europäischen Kontinent Wirklichkeit.

Neustart durch Margaret Thatcher und François Mitterrand

Der Eurotunnel-Durchbruch begann mit einer politischen Weichenstellung: Margaret Thatcher und François Mitterrand reaktivierten 1981 die gemeinsamen Planungen. Eine Expertengruppe empfahl eine private Finanzierungsstrategie durch Banken und Investoren.

Nach intensiven Verhandlungen wurde ein Wettbewerbsverfahren initiiert, bei dem zehn verschiedene Projektkonzepte begutachtet wurden. Letztendlich setzte sich der Vorschlag der Channel Tunnel Group/France Manche durch, der später als Eurotunnel firmierte. Das technische Konzept sah ein komplexes Tunnelsystem vor: zwei Hauptröhren für den Zugverkehr und einen Servicetunnel als Rettungsweg. Aus Sicherheitsgründen waren eingleisige Eisenbahntunnel geplant, mit regelmäßigen Verbindungen zwischen den Hauptröhren. Die Finanzierung stellte sich ambitioniert dar: Sechs Milliarden Pfund Gesamtbudget, davon eine Milliarde durch Aktienkapital und fünf Milliarden von internationalen Banken. Der Fertigstellungstermin war für Dezember 1993 vorgesehen, mit speziell entwickelten Shuttle-Zügen und entsprechenden Terminalanlagen an beiden Tunnelenden.



Geologische Rahmen­bedingungen

Die zentrale Herausforderung lag in der präzisen Positionierung. Mittels seismischer Reflexionstechnologie – quasi einem Röntgenblick durch den Untergrund – gelang es den Ingenieuren, die komplexe Routenführung zu planen. Tunnelbohrmaschinen, gigantische 200 Meter lange „mechanische Maulwürfe“, fraßen sich mit computergestützter Präzision durch den Untergrund.

Die Entstehung des Ärmelkanals ist ein faszinierendes geologisches Phänomen, das Wissenschaftler durch umfangreiche Untersuchungen rekonstruiert haben. Die komplexe Landschaftsgeschichte begann bereits in der Kreidezeit mit Meeresablagerungen und erfuhr dramatische Veränderungen während der letzten Eiszeit. Vor etwa 10.000 Jahren führten tektonische Prozesse zu einer bedeutenden Landschaftstransformation. Der steigende Meeresspiegel und gleichzeitige Bodensenkungen in den Küstenregionen veränderten die Topographie grundlegend. Weite Landstriche wurden überflutet, und die Küstenlinie nahm ihre heutige Form an.

Der entscheidende Durchbruch, der den Ärmelkanal vollständig formte, ereignete sich vor ungefähr 5.000 Jahren. Charakteristisch für diese Region sind mächtige Kreideschichten, die unter dem Meeresgrund zwischen 64 und 80 Meter dick sind. An den Küsten von Dover sowie am Cap Gris Nez und Cap Blanc Nez wurden diese geologischen Formationen freigelegt, was den Beginn einer intensiven Kliffbildung markierte.

Planung & Baufortschritt

Ingenieure und Geologen nutzten diese detaillierten Erkenntnisse bei der Planung des Eurotunnels, um die unterirdischen Strukturen präzise zu verstehen und zu bewältigen. Der Eurotunnel wurde durch eine geologisch günstige Kalkmergelschicht ermöglicht, die durchschnittlich 40 Meter unter dem Meeresboden liegt und optimale Voraussetzungen für den Tunnelbau bot. Die Schicht zeichnete sich durch leicht plastische Eigenschaften, gleichförmige Lagerung und extrem geringe Wasserdurchlässigkeit aus. Während die englische Seite günstige geologische Bedingungen aufwies, stellten die französischen Abschnitte größere Herausforderungen dar, insbesondere durch Grundwasserbereiche und wasserführende Spalten.

Die Bauarbeiten begannen am 1. Dezember 1987 mit insgesamt 11 Tunnelbohrmaschinen, die in 12 Bauabschnitten arbeiteten. Die Bohrungen erfolgten laser- und computergesteuert, was eine bemerkenswerte Präzision ermöglichte – bei der ersten Verbindung betrug die Abweichung nur 8 Zentimeter in der Höhe und weniger als 50 Zentimeter in der Breite. Jede Maschine konnte monatlich 800 bis 1.000 Meter Tunnel graben.

Die Tunnelauskleidung erfolgte mit vorgefertigten Stahlbetonsegmenten, wobei auf der französischen Seite besondere wasserdichte Verschalungstechniken zum Einsatz kamen. Der Gleisbau wurde mit einer innovativen schotterlosen Konstruktion realisiert, die speziell für Hochgeschwindigkeitszüge entwickelt wurde und Vibrationen durch elastisch gelagerte Schienenstränge reduziert.

Der Tunnel symbolisierte ursprünglich europäische Integration. Am 1. Dezember 1990 trafen sich die Bauteams mit nur 35 Zentimetern Höhenunterschied – ein mathematisches Meisterwerk der Vermessung. Am 6. Mai 1994 wurde der Eurotunnel offiziell durch Frankreichs Staatspräsidenten François Mitterrand und Königin Elizabeth II. eingeweiht. Nach verschiedenen finanziellen und technischen Herausforderungen nahm der Betrieb im September 1994 seinen regulären Betrieb auf und verband damit erstmals Großbritannien direkt mit dem europäischen Kontinent durch einen Untertunnelung des Ärmelkanals.

Kernpunkte des Eurotunnel-Projekts:

  • Geologische Basis: Kalkmergelschicht in 40 Meter Tiefe unter dem Meeresboden
  • Baubeginn: 1. Dezember 1987
  • Paralleler Bau in 12 Abschnitten mit 11 Tunnelbohrmaschinen
  • Bohrkopfdurchmesser: 5,38-8,78 Meter
  • Computergesteuerte Präzisionsbohrungen
  • Verbindungsgenauigkeit: nur 8 cm Höhenunterschied
  • Spezielle Gleiskonstruktion für hohe Geschwindigkeiten
  • Offizielle Einweihung: 6. Mai 1994
  • Betriebsstart: September 1994

Die Tunnelkonstruktion erforderte innovative Lösungen wie vorgefertigte Stahlbetonsegmente, wasserdichte Verschalung und vibrationsdämpfende Technologien. Das Projekt demonstrierte höchste ingenieurtechnische Präzision und geologisches Verständnis bei der Überwindung natürlicher Barrieren.



Wirtschaftliche Entwicklung

Laut eigenen Angaben (2001) stieg der Eurotunnel zum Marktführer für die Kanalquerung auf, mit einem Anteil von 60 % am Touristenmarkt und 48 % im Frachtgewerbe. Im Jahr 2011 nutzten etwa 2,26 Millionen Autos, 56.095 Busse und 1,26 Millionen LKW den Shuttle-Service der Eurotunnel-Gesellschaft. 9,7 Millionen Passagiere durchquerten den Kanal durch den Tunnel mit dem Eurostar. Insgesamt passierten fast 19 Mio. Menschen den Eurotunnel. 17,7 Millionen Tonnen Güter- und Containerfracht durch den Eurotunnel transportiert.

Nach einem Bericht der Betreibergesellschaft konnte der Eurotunnel im 1. Quartal 1997 erstmals seit der Tunneleröffnung einen positiven Umsatz in Höhe von 71,8 Millionen Pfund verbuchen (umgerechnet etwa 105 Millionen Euro). Im Vergleich dazu betrug der Umsatz für den gleichen Zeitraum 1998 bereits 124,3 Millionen Pfund (umgerechnet etwa 166 Millionen Euro), dies entspricht einer Steigerung von 73 Prozent. Den ersten Gewinn verbuchte die Betreibergesellschaft 2007 mit etwa 1 Mio. Euro, im Jahr 2008 betrug der Gewinn schon 40 Mio. Euro, erstmals wurde eine Dividende von 4 Cent ausgeschüttet.

Wie mit dem immensen Schuldenberg von etwa 9 Milliarden Euro im Jahr 2006 umgegangen werden sollte, war dabei fraglich. Durch den laufenden Betrieb konnten die Schulden und die damit verbundenen Kosten nicht gedeckt werden. Um die Betreibergesellschaft vor der Insolvenz zu bewahren, wurde sowohl Mitte 2006 wie auch Anfang 2007 Gläubigerschutz beantragt. Letztendlich musste das Unternehmen bis Mitte 2007 mit den Gläubigern zu einer Einigung über eine Sanierung inklusive Minderung der Schuldenlast auf 4,16 Mrd. Euro kommen, um der drohenden Pleite zu entgehen. Am 29. Juni 2007 stimmten die Gläubiger schließlich dem notwendigen Schuldenerlass von 5 Mrd. Euro zu. Im Jahr 2011 konnten 845 Mio. Euro an Einkünften erzielt werden, davon 278 Mio. Euro durch den Schienenverkehr im Tunnel.

Eine weitere Perspektive hat sich der Eurotunnel mit dem Einstieg in das Telekommunikationsgeschäft geschaffen. Zunächst wurden Telefonkabel und Datenleitungen durch die Kanalröhren gelegt. Über diesen Weg konnte die Gesellschaft zusätzliche Einnahmen verbuchen.

Diese Dienste werden mittlerweile von der neu gegründeten Tochtergesellschaft des Konzerns „Eurotunnel Telecom“ angeboten. Dabei werden zwei Konzepte verfolgt: Zum einen werden ohnehin bestehende und bereits installierte Kabel vermietet, zum anderen haben Firmen die Möglichkeit, ihre eigenen Kabel durch den Tunnel verlegen zu lassen. Durch eine bessere Wartungsmöglichkeit ist das Verlegen der Leitungen durch den Tunnel ein deutlicher Vorteil gegenüber der bisherigen Methode, die Kabel im Kanal zu versenken. Es entfällt zudem die Notwendigkeit teurer Korrosionsschutzmaßnahmen und Auftriebssicherungen, die bei einer Verlegung im Wasser notwendig sind.

Der Kanaltunnel zählt weltweit zu den bedeutendsten Verkehrsinfrastrukturen seiner Art und ist der drittlängste längsten Eisenbahntunnel des Planeten. Die komplexe Betriebsführung liegt in den Händen von Getlink, die sowohl den Tunnelbetrieb als auch die Überwachung und Wartung sicherstellen. Verschiedene Verkehrsunternehmen nutzen die Röhre für unterschiedliche Zwecke: Eurostar International bedient Hochgeschwindigkeitsstrecken zwischen Großstädten, während Eurotunnel Le Shuttle den Fahrzeugtransport abwickelt. Hinzu kommt die ElecLink-Hochspannungsleitung: In der Nordröhre verläuft eine 51 Kilometer lange 320-kV-Gleichstromverbindung, die britische und französische Stromnetze miteinander verbindet. Diese Leitung, betrieben durch eine Tochtergesellschaft von Getlink, nahm im September 2021 ihren Betrieb auf und erreichte den kommerziellen Vollbetrieb im Mai 2022. Ihre Übertragungskapazität beträgt ein Gigawatt.

Die Reisezahlen des Eurostar haben sich seit den Herausforderungen durch Brexit und Pandemie drastisch verändert. Trotz längerer Grenzformalitäten bleibt die Reiseerfahrung für Stammpassagiere grundsätzlich positiv. Das Unternehmen Getlink verzeichnete im Jahr 2023 ungefähr elf Millionen Reisende, was einen erheblichen Rückgang im Vergleich zur Vor-Pandemie-Ära darstellt.

Zahlen und Fakten zum Eurotunnel

  • Tägliche Durchquerung: 3.353 LKWs
  • Passagiere 2023: etwa 11 Millionen
  • Tunnel-Infrastruktur: Zwei Eisenbahntunnel mit 7,6 m Durchmesser
  • Notfalltunnel: 4,8 m Durchmesser

Quellen:

 
Update 04.12.2024:
Die Eurotunnel-Betreibergesellschaft hatt angekündigt, die Anzahl der Direkt-Hochgeschwindigkeits-Bahndienste, die Großbritannien und Kontinentaleuropa über den Kanaltunnel verbinden, innerhalb des nächsten Jahrzehnts zu verdoppeln. Diese Initiative zielt darauf ab, die CO2-nahe Mobilität zu fördern und die Reisemöglichkeiten zwischen London und europäischen Großstädten wie Köln, Frankfurt, Genf und Zürich zu erweitern. Ziel ist es, die Zeit zu halbieren, die notwendig ist, um neue Bahnverbindungen durch den Tunnel zu starten. Der gesamte Prozess soll von 10 auf nur fünf Jahre reduziert werden. Diese Beschleunigung ist das Ergebnis einer engen Zusammenarbeit mit europäischen Infrastrukturmanagern, Regulierungsbehörden, Zugherstellern und Netzbetreibern – siehe hierzu: https://www.globalrailwayreview.com/news/196904/eurotunnel-double-direct-high-speed-rail-services-channel-tunnel-2034/

Bildnachweis: Getlink, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons